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Prof. Dr. Helmut Reichling  zu Themen von gestern, heute und morgen
aktualisiert am: 29.07.2021

 

 

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Zwerg

 

 

Die Geschichte der Zwerge, Heinzelmännchen und Wichtel

Das Geheimnis der Zwerge

Der Gartenzwerg galt früher als typisch deutsches Kulturgut.Zwerge tauchen in vielen Märchen auf, die früher den Kindern erzählt und vorgelesen wurden. Ebenso Heinzelmännchen und Wichtel. Diese Gestalten haben eine interessante Geschichte und einen bemerkenswerten Ursprung.Doch viele der althergebrachten Märchen geraten immer mehr in Vergessenheit.

Märchen, wie sie uns die Gebrüder Grimm in ihren Sammlungen überliefert haben, sind aus der Mode gekommen.Aber vielleicht hat das traditionelle Märchen nur seinen Namen gewechselt und begegnet uns heute im Jahr 2021 mit den bekannten Protagonisten unter dem Namen Fantasy.

Wie dem auch sei. Sowohl in den Fantasy-Geschichten als auch in den uralten Märchen haben Zwerge noch immer ihren festen Platz.

 

 

 

 

 

 

 

Daher will ich hier etwas über Zwerge erzählen.

Viele von uns kennen noch das Märchen vom „Schneewittchen“ der Gebrüder Grimm, das auch von Walt Disney im Jahre 1937 als erster abendfüllender Animationsfilm dem Publikum vorgestellt wurde.Es handelt sich hierbei um eine Geschichte, die wohl einen wahren Kern hat, den die Allerwenigsten kennen.

Aber was sind Zwerge eigentlich, woher stammen sie und hat es sie vielleicht wirklich gegeben?

Die Zwerge aus unseren Märchen haben zunächst nichts mit kleinwüchsigen Menschen oder sogenannten Liliputanern zu tun. Die sogenannte Mikrosomie ist eine Folge von Wachstumsstörungen im Kindesalter. Im Barock waren solche Menschen an den Fürstenhöfen sehr begehrt. Sie waren wegen ihrer ungewöhnlichen Erscheinung als Spaßmacher beliebt und manch einer von ihnen erlangte die Stellung eines sogenannten Hofzwerges. Besonders die eitlen Damen am Hof traten gern neben den Hofzwergen auf, um dadurch ihre Schönheit besser zu Geltung zu bringen.

Zwerge, wie wir sie hier verstehen, waren in uralten Zeiten mystische Wesen in der Erzähltradition der nordischen wie auchder antiken klassischen Sagen.In der Edda, der Sagensammlung der nordischen Mythen, ist bereits von Zwergen die Rede. Unser deutsches Wort Zwerg ist dabei eng verwandt mit dem englischen Wort „dwarf“ oder dem schwedischen Wort „dvärg“.

Damit werden geheimnisvolle Wesen beschrieben, die lange vor den Menschen entstanden sind, vielleicht zeitgleich mit den Göttern. Sie leben abgeschieden in dunklen Gefilden und wurden zu den Alben gerechnet, zu denen auch die Feen gehören. Sie werden daher auch als die dunklen Alben bezeichnet.

In ihren unterirdischen Behausungen, manchmal sogar in goldenen Palästen in der Tiefe der Erde, gehen sie als geschickte Bergleute und Handwerker ihrer Arbeit nach. Bei dieser Tätigkeit übertreffen sie bei Weitem die Fähigkeiten und die Geschicklichkeit der Menschen, von denen sie sich meist fernhalten. Ihre handwerkliche Kunstfertigkeit ist unübertroffen und geht in Zauberei über.So verfertigen Zwerge Odins Speer oder auch Thors Hammer.

Alle diese Eigenschaften der nordischen Zwerge besitzen auch die Zwerge unserer deutschen Märchenwelt. Mit einem Unterschied: Die nordischen Zwerge werden nicht ausdrücklich als kleinwüchsig geschildert.

Auch die klassischen Sagen der griechischen Antike kennen die Zwerge. Sie heißen dort „Fäustlinge“, was dem deutschen Ausdruck „Däumling“ entspricht, auf Griechisch „Pygmäen“.Diese Zwerge beschreibt schon Homer in der Ilias und erwähnt dabei, wie die kleinen Zwerge im Herbst gegen die Kraniche kämpfen müssen, die zu dieser Zeit wieder in ihre Brutgebieten einfallen. Auch jene Pygmäen der klassischen Sagen gelten als geschickte Künstler, Handwerker und Bergleute.Das Zwergenthema wurde von den Schriftstellern der Antike gerne aufgegriffen und gerade der Kampf der Zwerge mit den Kranichen wurde häufig in der bildenden Kunst dargestellt.

Im Gegensatz zu den nordischen Zwergen sind sie kleinwüchsig, „Pygmäen“ eben.

Zahlreiche Autoren der griechischen Antike sind der Frage nachgegangen, ob es diese Zwerge wirklich gibt und wie und wo sie leben.Die meisten der damaligen Wissenschaftler vermuteten den Wohnort dieser Pygmäen am Rande der besiedelten Welt.Der Philosoph Aristoteles glaubte ihre Heimat seien die Gebiete der Nilquellen in Zentralafrika und der Forschungsreisende und Arzt Ktesias will Zwerge im nördlichen Perserreich gesehen haben.Ktesias von Knidos war ein durchaus ernst zu nehmender Beobachter. Als Leibarzt des persischen Großkönigs bereiste er Asien und ihm verdanken wir auch die ersten Berichte von Einhörnern.Ktesias hat dabei sehr zutreffend das asiatische Waldnashorn als Einhorn beschrieben.

Jeder Mythos hat irgendwie einen wahren Kern und daher sollten wir uns die Geschichte vom Kampf der Zwerge mit den Kranichen einmal näher anschauen.Das südlichste Brutgebiet der Kraniche befindet sich in einer Gegend, die in der Antike als Phrygien bezeichnet wird und wohl hier können wir die Heimat der Zwerge als einer Pygmäenpopulation vermuten, die sich dort über sehr lange Zeit gehalten hat. Damit hätte Ktesias von Knidos recht.

Aber auch die Annahme von Aristoteles, die Heimat der Pygmäen sei südlich des Nils, in Zentralafrika zu suchen, ist richtig.Aus altägyptischen Hieroglyphen ist zu entnehmen, dass die ägyptischen Pharaonen bereits im 23. Jahrhundert vor Christus an ihren Höfen sogenannte Tanzzwerge hielten. Diese Zwerge sollen aus dem sagenhaften Königreich Punt stammen, das für seinen Goldreichtum berühmt war.Noch heute leben in Zentralafrika Pygmäen Stämme mit einer Population von etwa 150 bis 200 Tausend Menschen. Die Kleinwüchsigkeit jener Stämme wird genetisch vererbt und hat sich wegen der Abgeschiedenheit dieser ethnologisch sehr interessanten Menschen bis in unsere Tage erhalten.

Richten wir also auf der Suche nach den Zwergen unserer Märchen den Blick zunächst auf Phrygien und die Pygmäen Stämme, die vielleicht vor tausend Jahren dort ihr Siedlungsgebiet hatten.Diese Landschaft der heutigen Türkei hat eine wechselvolle Geschichte: Im Mittelalter gehörte sie zum Osmanischen Reich, in der Antike zum römischen Imperium, zuvor zum Alexanderreich und davor zum persischen Großreich. Bevor Phrygien von diesen Großmächten einverleibt wurde, war es ein selbstständiges Königreich eines indogermanischen Volksstammes, der ursprünglich Bryger genannt wurde, das soviel bedeutet wie Bergarbeiter. Die Menschen verfügten über Kenntnisse und Fähigkeit in Handwerk und Baukunst, mit denen sie die umliegenden Völker weit übertrafen.

Phrygien ist auch die Heimat des sagenhaften Königs Midas, von dem erzählt wurde, dass alles, was er berührte zu Gold wurde, und hier fließt auch der Fluss Paktolos, der in der Antike als einer der goldreichsten Flüsse der Welt galt.Offenbar lebten dort Menschen, die sich auf den Bergbau und die Metallgewinnung verstanden.In entlegenen Bergtäler Phrygiens hausten die Pygmäen oder Zwerge und gingen ihrer Beschäftigung nach, die dem ganzen Land Reichtum und Wohlstand bescherte.

Ihre traditionelle Kleidung war die phrygische Mütze, die sich im Altertum als äußerst brauchbare Kopfbedeckung nicht nur bei den Bergleuten, sondern auch bei den Seeleuten Verbreitung gefunden hatte.Diese phrygische Mütze war traditionell aus dem Hodensack eines Stieres gefertigt. Sie war sehr widerstandsfähig. Charakteristisch ist dabei der lange runde Zipfel. Diese Kopfbedeckung bedeckte auch die Schultern und zuweilen auch den Nacken. Sie war also ideal für Arbeiten an gefährlichen Orten, besonders in Bergwerken.Zur Kaiserzeit war diese Kopfbedeckung auch im antiken Rom verbreitet. Sie wurde verziert und rot gefärbt, von freigelassenen Sklaven getragen, die damit ihren neuen Stand und ihre Freiheit nach außen zum Ausdruck bringen wollten. Dementsprechend wurde Jahrhunderte später diese phrygische Mütze zum Symbol der französischen Revolution und dem von der Knechtschaft befreiten Volk.

Diese phrygische Mütze ist auch die typische Kopfbedeckung unserer Zwerge in den Volksmärchen.

Obwohl der Bergbau in Deutschland schon eine lange Tradition hatte, wurden im Mittelalter neue Technologien notwendig, um die vorhandenen Gold- und Silbervorkommen zu erschließen.Das legt die Vermutung nahe, dass Fürsten, in deren Herrschaftsgebiet Edelmetalle unter der Erde gefunden wurden, Spezialisten aus fernen Ländern angeworben haben.Solche Spezialisten waren vielleicht auch die phrygischen Bergarbeiter der erwähnten Pygmäen Stämme.

In der damaligen Zeit war in Deutschland der Harz ein Gebiet, in dem in zahlreichen Bergwerken wertvolle Metalle, besonders auch Silber und Gold abgebaut wurden. Hunderte Bergwerke entstanden und hatten einen großen Bedarf an kleinwüchsigen und erfahrenen Bergleuten aus Phrygien. Die kamen ins Land und lebten in abgeschiedenen Bergmannssiedlungen in der Nähe der Bergwerke.Noch heute zeigt man im Harz den interessierten Touristen das Schloss der Grafen von Stolberg als das Schneewittchenschloss.

Rund um dieses Schloss waren in alter Zeit bei den Bergwerken mehrere Bergmannscamps entstanden.Vielleicht finden wir hier den Ursprung des Märchens vom Schneewittchen: Eine Fürstentochter wird wegen Erbstreitigkeiten, oder wegen ihrer Schönheit von der bösen Stiefmutter mit dem Tode bedroht und rettet sich in ein Bergarbeiter Camp im Wald, wo sie quasi als Groupie von den Zwergen aufgenommen und beschützt wird.

In den überlieferten Märchen überlagerten sich bald die Geschichten von den nordischen Zwergen und die Beobachtungen der Menschen, die tatsächlich den phrygischen Pygmäen als den Gastarbeitern des Mittelalters begegnet waren.Zwerge galten als geheimnisvoll, weil man sie wegen ihrer Arbeit unter Tage nicht zu Gesicht bekam. Nur manchmal begegnete man einem von ihnen im Wald und man vermutete, sie verfügen über geheimes Wissen, vielleicht sogar über Zauberkräfte.

Die von den Gebrüder Grimm gesammelten Hausmärchen taten das ihrige, um aus den Zwergen Zauberwesen zu machen, denn Jacob und Wilhelm Grimm hatten sich natürlich auch aus dem Sagenschatz der Skandinavier bedient sowie den Zwergenmythen aus dem Norden.So war bald das Erscheinungsbild des Zwerges festgelegt, wie wir es kennen: Sie sind klein, tragen einen weißen Bart und eine rote Zipfelmütze.Sie halten sich von den Menschen verborgen im Wald auf und arbeiten bevorzugt in Bergwerken.Treten sie in Gruppen auf, so sind sie stets freundlich und hilfsbereit. Sie beschenken Menschen, die ihnen Gutes tun.

Zwergenfrauen gibt es in diesen Erzählungen an keiner Stelle. Das stützt unsere Vermutung von den phrygischen Pygmäen, die als Gastarbeiter nach Deutschland kamen, denn während die Männer meist jahrelang in der Fremde in den Bergwerken arbeiteten, blieben die Frauen zu Hause in der angestammten Heimat.

Denken wir in diesem Zusammenhang auch an die Heinzelmännchen in Köln.Auch sie waren Zwerge, die für die Handwerker in der Nacht die Arbeit erledigten, bis eine vorwitzige Frau Erbsen ausstreute, auf denen die kleinen Menschen ausrutschten und so die Stadt verließen.Der Name Heinzelmännchen wurde von der bekannten Ethnologin und Sagenforscherin Marianne Rumpf auf den Begriff „Heinz“ oder „Heinzenkunst“ zurückgeführt. Darunter verstand man früher die Technik des fachgerechten Abtäufens der Bergwerke, also die Wasserabführung im Berg. Der Heinzelmann war also der Bergmann, der mit dieser wichtigen Aufgabe betraut war. Wir sehen also auch die Heinzelmännchen haben einen ganz engen Bezug zum Bergbau.

Beschäftigen wir uns zum Schluss noch mit der Frage, warum diese geheimnisvollen Zwerge einfach verschwunden sind.In den Märchen wird ihr Verschwinden immer wieder mit neugierigen Personen in Verbindung gebracht, die in irgendeiner Weise in die Parallelgesellschaft der Zwerge eingedrungen sind. Manchmal lesen wir auch von Menschen, die den Zwergen aus Dankbarkeit für ihre Arbeit Kleider geschenkt haben, über die sich das kleine Volk zwar sehr freute, aber dieses Geschenk zum Anlass nahm sich von den Menschen zurückzuziehen.Wir können vielleicht in diesen Erzählungen fehlgeschlagene Versuche erkennen, die Fremden in die Gesellschaft der damaligen Welt zu integrieren.

Das Verschwinden der Zwerge wie wir sie aus den Märchen kennen, hat, wie ich glaube, einen viel einfacheren natürlichen Grund.

 Allmählich wurden die phrygischen Pygmäen doch in die Gesellschaft ihrer Gastländer integriert. Manch klein gewachsenes Mädchen mag einen der größeren der Pygmäen geheiratet haben und führte mit diesem erfahrenen Spezialisten ein glückliches Leben. Pygmäen sind keine eigene Menschenrasse. Es kann zu fruchtbaren Verbindungen kommen und das Gen, das die Kleinwüchsigkeit verursacht, wird im Laufe der Generationen immer durch andere Erbanlagen überdeckt. Mag der Urgroßvater noch ein Pygmäe gewesen sein, so haben die Enkel nur noch einen Bruchteil der ursprünglichen Veranlagung zur Kleinwüchsigkeit. Das Gleiche gilt auch für die ursprünglichen Stämme in Phrygien, die durch Vermischung mit der umliegenden Bevölkerung diese typische genetische Disposition verloren haben.Nur die Pygmäen in Zentralafrika haben sich wegen ihres abgesonderten Lebensraumes als kleinwüchsiges Volk erhalten.

Unsere Märchen erzählen auch von bedauernswerten Einzelzwergen, die wohl in den tiefen Wäldern ein einsames und trauriges Dasein führten.Sie werden meist als bösartig geschildert. Wie der Zwerg im Märchen von „Schneeweißchen und Rosenrot“ oder der Zwerg mit dem bezeichneten Namen „Rumpelstilzchen“, der auch vor einer intimen Beziehung mit einer Königin nicht zurückgeschreckt, um so zu einem Kind zu kommen.

Eine besonders interessante Mischung der deutschen Märchen und der nordischen Erzähltradition stellen die Wichtelmänner dar.In den Volksmärchen der Gebrüder Grimm steht Wichtel gleichbedeutend für Zwerg. Wichtel ist die Verkleinerungsform für Wicht, also ein lebendiges Wesen. In Skandinavien heißen die Wichtel, „Nissen“ und dazu gehören die sogenannten Julnissen, also die Weihnachtswichtel.Der Weihnachtswichtel trägt eine rote, pelzbesetzte Zipfelmütze und ein rotes Wams. Er kommt durch den Kamin oder eine eigens zur Weihnachtszeit für ihn gefertigte Wichteltür in die Wohnstuben und bringt die Geschenke. Der Weihnachtswichtel kommt geheimnisvoll in der Nacht und darf keinesfalls bei seiner Arbeit gestört werden.

In der neueren angelsächsischen Erzähltradition vermischen sich dann die Weihnachtswichtel mit dem heiligen Nikolaus und werden schließlich zum Typus des Weihnachtsmanns, wie ihn der amerikanische Zeichner Thomas Nast dargestellt hat.Schon in dem bekannten Gedicht, „The night, bevor Christmas“ aus dem Jahre 1823 wird der Weihnachtsmann noch als „lustiger alter Elf“ bezeichnet.Der Brauch des sogenannten „Wichtelns“ zu Weihnachten, der sich auch bei uns immer mehr durchsetzt, geht auf den skandinavischen Weihnachtswichtel, also einen Zwerg zurück.Wenn der US-amerikanische Weihnachtsmann, Santa Claus, in der Vorstellung der Kinder heute am Nordpol lebt und unterstützt von seinen Zwergen als Helfern, Spielsachen produziert, dann ist das eine logische Weiterentwicklung der uralten Zwergenmythen.

Wer mehr über die Entstehung des Weihnachtsmanns erfahren möchte, sollte sich einmal meine Videos zum Thema Weihnachtsmann auf meinem YouTube Kanal ansehen.

Noch einmal zurück zum Gartenzwerg.Er trat seinen Siegeszug durch die deutschen Gärten im Jahre 1872 an. Damals wurden in Thüringen zwei Fabriken gegründet, die Gartenzwerge in Massen- und Serienproduktion herstellten.

So war der Zwerg in tönerner Form wieder in seine Heimat rund um den Harz rückgekehrt.