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Magnifikat

Prof. Dr. Helmut Reichling  zu Themen von gestern, heute und morgen
aktualisiert am: .21.10. 2021

 

 

 

Dialog zum Magnifikat

Der Gastgeber hatte den Tisch liebevoll gedeckt. Tee, Kaffee und süßes Gebäck standen bereit. Auch an einen kleinen Blumenstrauß in der Mitte des Arrangements von bunten Tässchen und Kännchen hatte er gedacht.

Nasreddin wollte, dass sich seine Gäste wohlfühlen und Freude an dem Gespräch haben, zu dem er vier Damen eingeladen hatte.

Hodscha Nasreddin war im Orient noch immer sehr beliebt und auch in andere, zu seiner Zeit unbekannte Erdteile war mittlerweile sein Ruf gedrungen.

 

 

 

 

 

 

 

 

In Europa galt er seit Langem als die morgenländische Ausgabe des Till Eulenspiegels, eines Schalksnarren, der selbst prominenten Persönlichkeiten den Spiegel vorhalten durfte. Wenn sich Nasreddin richtig erinnerte, war er schon vor über 500 Jahren mit hohen und höchsten Herrschaften zusammengekommen und hatte sie mit seinen witzigen und teilweise bissigen Bemerkungen oft in große Verlegenheit gebracht. Aber man durfte ihm nicht böse sein, denn was er sagte, war mit Humor verbrämt.

Die Welt des Islams liebte ihren Nasreddin von Istanbul bis in die chinesischen Weiten, in denen die Uiguren lebten.

Mit großer Ehrerbietung und mit dem Charme eines erfahrenen Weltmannes begrüßte er die Ankommenden, die er trotz seiner Körperfülle elegant an ihre Plätze an der kleinen Tafel geleitete.

Zuerst war Clara Zetkin gekommen, die er neben seinem Ehrengast platzieren wollte. Er schätzte ihr zupackendes und resolutes Wesen sowie die Art und Weise, wie Sie immer unumwunden deutlich machte, wofür sie kämpfte.

Auch Marie Curie war seiner Bitte, an der Runde teilzunehmen, gerne gefolgt. Nasreddin war immer etwas unsicher, wenn er hochintelligenten weiblichen Wesen begegnete und gerade diese Frau, deren scharfer Verstand sicher himmelhoch über seinen witzigen Einfällen stand, machte ihn verlegen.

Er kam nun einmal aus einem traditionsreichen Kulturkreis, in dem die Frauen mehr wegen ihrer Schönheit verehrt wurden als aufgrund ihrer intellektuellen oder gar wissenschaftlichen Überlegenheit. Doch gerade deshalb hatte er Madame Curie eingeladen.

Als Dritte der Besucherinnen kam Elisabeth. Sie war die ehemalige Landgräfin von Thüringen und Nasreddin mochte sie wegen ihrer jugendlichen und unbekümmerten Art. Sie lachte gerne und wirkte immer wie ein ganz junges Mädchen, obwohl auch sie eine erfahrene und durch viele Schicksalsschläge verwundete Frau war.

Schließlich geleitete er seinen Ehrengast an die Tafel. Maryam, die heute der Mittelpunkt der Runde sein sollte. Eine Frau, die in ihrem Leben auch die bittersten Erfahrungen machen musste. Die aber in der ganzen Welt höchste Verehrung genoss und in seinen Augen weit über den anderen Frauen stand. Wie glücklich war er, dass Maryam heute zu ihm gekommen war!

Mit geschickter Hand versorgte der Hausherr die Damen mit Getränken, bot ihnen von den Näschereien an und begrüßte die Anwesenden, indem er seiner übergroßen Freude Ausdruck verlieh, dass sein bescheidenes Heim an diesem Tag mit einem Glanz erfüllt sei, der mühelos den funkelnden Glitzer im Palast des Sultans oder des Schahs in den Schatten stelle.

Da er wusste, dass er seine Gäste nicht mit plumpen Schmeicheleien beeindrucken konnte, was sowieso nie seine Sache gewesen war, so brachte er die Rede gleich auf den Inhalt des Gespräches, das er anregen wollte:

Nasreddin: „Maryam, über die Worte, die Du beim Besuch bei Deiner Cousine Elisabeth gesprochen hast, wollen wir uns heute unterhalten. Kannst Du sie uns bitte noch einmal wiederholen?“

Die so Angesprochene lächelte in die Runde und sah Hodscha Nasreddin mit ihren wunderschönen dunklen Augen an. Nasreddin überlief dabei ein Schauer, eine Mischung aus zärtlicher Zuneigung und innerster Ergriffenheit. Kein Wunder, dass Allah gerade diese Frau ausgewählt hätte und der Prophet, gepriesen sei sein Name, ihr und ihrer Geschichte eine Sure im heiligen Koran gewidmet hatte.

Maryam begann und die Damen am Tisch lauschten still, obwohl sie alle den Text schon seit ihrer frühesten Jugend kannten:

„Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.

 Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. Denn der Mächtige hat Großes an mir getan und sein Name ist heilig.

Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten. Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen. Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen, das er unseren Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig“.

Zunächst war es still am Tisch und Clara lächelte Maryam freundlich zu.

Nasreddin: „Clara, Du nickst beipflichtend. Ich glaube, die Passage, dass die Mächtigen vom Thron gestürzt werden und die Niedrigen erhöht werden, hat Dir besonders gut gefallen. Die Hungernden werden beschenkt und die Reichen werden leer ausgehen. Das ist doch auch immer Dein Ziel gewesen.“

Clara: „Mein Vater Gottfried war Lehrer und Organist in der Kirche meines Heimatortes. Er war Zeit seines Lebens ein tiefgläubiger Protestant. Das sogenannte Magnifikat, das uns Maria gerade vorgetragen hat, konnte ich schon als kleines Kind auswendig. Die Bibel war für meinen Vater das wichtigste Buch überhaupt, daraus schöpfte er seine Kraft und seine Orientierung. Als ich allmählich meinen naiven Kinderglauben verloren hatte, ärgerte mich der Text. Die Menschen werden auf das Erbarmen eines Gottes verwiesen, der für sie die Dinge regelt. Wenn er sich erbarmt, wird alles gut, tut er es nicht, bleibt alles beim Alten. Es fehlt mir die Eigeninitiative der Gesellschaft, die Bereitschaft für die sozialen Ziele zu kämpfen. Wir sollen nur auf die Gnade Gottes vertrauen, dann wird alles Gut. Karl Marx hat es so formuliert: Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“

Maryam blickte bei diesen Sätzen ein wenig verwirrt. Sie irritierte die kühle Interpretation Claras.

Nasreddin: Aber haben wir nicht gerade bei Maryam gesehen, dass Gott ordnend eingreift, dass er als Person für uns da ist, uns stützt, uns beisteht und uns erhöht?“

Marie: „In gewisser Weise stimme ich Dir zu Nasreddin. Dennoch, wie oft haben die Menschen nach Gott gerufen, seine Hilfe erfleht und doch blieb der Himmel über ihnen still und der mächtige Beistand blieb aus. Wie Du weißt, bin ich keine Christin, sondern im jüdischen Glauben erzogen. Gerade meinem Volk wurde die Rettung versprochen. Im Magnifikat steht, dass sich Gott seines Knechtes Israel, also seines auserwählten Volkes annimmt. Sein Erbarmen, das er unseren Vätern seit Abraham verheißen hat, soll ewig wären. Wo war unser erbarmender Gott, als die Viehtransporte mit seinem Volk nach Auschwitz und in die anderen Vernichtungslager fuhren? Sein Volk flehte seinen Gott an, doch es fand keine Hilfe.“

Clara: „Sieht es nicht so aus, als seien wir alleingelassen und könnten uns nur retten, wenn wir uns selbst helfen?

Nasreddin merkte, dass das Gespräch Maria unangenehm war und wollte schon das Thema wechseln, da meldete sich Elisabeth zu Wort.

Elisabeth: Ich war noch ein kleines Kind, als ich das Magnifikat zum ersten Mal gehört habe, bei meinen Eltern am ungarischen Königshof. Als ich dann selbst schwanger war von meinem geliebten Mann Ludwig und sich das Kind in meinem Leib zum ersten Mal regte, war das für mich ein unvorstellbar schöner Moment. Ich dachte sofort an Maria und das Magnifikat. Ich war noch sehr, sehr jung. Ich glaube genauso alt wie Du damals Maria. Ich spürte, wie beglückend es doch ist, zu wissen, etwas Besonderes unter dem Herzen zu tragen. Bei mir war es der künftige Landgraf von Thüringen, bei Dir Maria war es unser Erlöser Jesus Christus. Was gibt es für eine Frau Schöneres? Ist das Magnifikat nicht der höchste Ausdruck von Freude und von Dankbarkeit. Ganz individuell, ohne gesellschaftlichen oder sozialen Anspruch. Geboren aus dem Gedanken, dass es da etwas gibt, das größer ist als unser eigenes Selbst und das sich unserer annimmt.“

Maryam lächelte dankbar zu Elisabeth.

Marie: „Ich glaube, wir dürfen das Magnifikat nicht so naiv sehen, wie Du es gerade dargestellt hast Elisabeth. Stellen wir diesen Lobgesang einmal in einen Gesamtzusammenhang. Der Evangelist Lukas, Leibarzt eines einflussreichen Mannes namens Theophilus, der gerade den christlichen Glauben angenommen hatte, wird von diesem an die Wirkungsstätten von Jesus geschickt, um dort mit dem nüchternen Verstande eines Wissenschaftlers die Augenzeugenberichte zu sammeln und zu analysieren. Was hat ein solches Loblied, und dazu noch in einer direkten Rede, in diesem Bericht verloren? Das Gleiche gilt übrigens auch für den Lobgesang des Zacharias bei der Geburt seines Sohnes Johannes und den Lobgesang des Simeon, als er den sogenannten Messias im Tempel mit seinen Eltern sieht. Diese Lobgesänge passen nicht in einen Tatsachenbericht. Wenn wir aber die alten überlieferten jüdischen Texte, die lange vor dem christlichen Evangelium entstanden sind, näher betrachten, dann stellen wir unschwer fest, dass diese Lobgesänge fast wortwörtlich uralte jüdische Überlieferungen sind. Ich will Euch jetzt nicht mit intellektuellen Feinheiten langweilen, aber beispielsweise der Eingangsvers, Meine Seele preist die Größe des Herrn, haben die jüdischen Gelehrten in der Septuaginta bereits bei Samuel 2,1 einer anderen Frau in den Mund gelegt, Dort ist zu lesen, Mein Herz wurde stark gemacht im Herrn. Wenn es im Magnifikat heißt, Mein Geist jubelt über Gott meinen Retter, so finden wir die gleiche Stelle auch bei Habakuk 3,18 mit den Worten, Auch ich werde im Herrn jubeln, mich freuen über Gott meinen Retter. Jeder einigermaßen gut ausgebildete Rabbiner wird Euch jede einzelne Stelle des Magnifikat in den alten jüdischen Schriften aufzeigen können, im Buch Genesis, bei den Psalmen, im Deuteronium, im Buch Hiob und so weiter. Ich bezweifele, dass dieses Magnifikat von Lukas wirklich so in seinen Bericht aufgenommen wurde und dass es Maria wirklich so gesagt hat. Das geht nicht gegen Dich persönlich Maria, das ist eine reine objektive wissenschaftliche Feststellung.“

Maryam blickte jetzt nicht mehr traurig, sondern sogar etwas trotzig.

Maryam: „Liebe Marie, vergiss nicht, ich stamme aus der Familie Davids und Salomons. Meine Vorfahren kannten die Schriften sehr wohl. Meine Mutter Anna hat sie mir häufig vorgetragen. Mein Onkel Zacharias, bei dem ich oft zu Besuch war, galt als einer der gebildetsten und angesehensten Priester im Tempeldienst in Jerusalem. Du darfst nicht denken, ich stamme von Analphabeten und Viehhirten ab, auch wenn ich mein Kind in einem Schafstall auf die Welt bringen musste. Es war für mich nicht schwer, meinen Dank an Gott mit den Worten der Schrift Ausdruck zu verleihen. Ganz im Gegenteil, das Gefühl, die Gebärerin unseres Heilands zu sein, konnte ich als junges Mädchen nur schwer in eigene Worte fassen, doch die Worte der Schrift brachten meine Gedanken besser zum Ausdruck, als ich es selbst hätte formulieren können.“

Nasreddin dachte daran, was es damals für ein vielleicht gerade 16-jähriges Mädchen bedeuten musste, ein Kind auf die Welt zu bringen, ohne dafür einen Vater vorzeigen zu können. Für die Christen war der Neugeborene Gottes Sohn, über den sie sich lange stritten, ob er Gott, gottgleich oder gottähnlich sei. Für ihn als Muslim war der auserwählte Jesus von Gott im Leib der Jungfrau Maryam erschaffen worden, damit er als Prophet wirke. Er dachte an die Stelle im Koran: So ist Jesus der Sohn der Maria eine Aussage der Wahrheit über die die uneins sind. Friede war über ihm am Tag als er geboren wurde, Friede am Tag, an dem er sterben werde und am Tag als er wieder auferweckt wurde.

Nasreddin „Maryam, wie war das eigentlich für Dich damals? Eine junge Frau mit Kind, kein Vater und doch in der Gewissheit, dass Dein Sohn für etwas ganz Besonders auserwählt wurde.“

Maryam: „Es war eigentlich nicht so schlimm, wie man es denken könnte. Natürlich war mein Verlobter Yussuf mehr als irritiert, als ich auf einmal schwanger war. Wir wollten heiraten, aber wir hatten noch nie miteinander geschlafen. Natürlich dachte Yussuf, wie wohl jeder andere Mann, ich sei ihm untreu gewesen. Aber er war anständig. Er wollte keinen Skandal machen und die Verbindung heimlich auflösen, ohne mich bloßzustellen. Doch im Traum erschien ihm ein Engel Gottes und offenbarte ihm, dass ich dieses Kind jungfräulich von Gott empfangen hatte, und Yussuf nahm mich als seine Frau zu sich und wir waren viele Jahre sehr glücklich. Jesus hätte sich keinen besseren Vater wünschen können. Doch wir Christen wissen, dass er Gottes Sohn war, und ich weiß auch die Muslime, wie Du Nasreddin, glauben, dass er von der Kraft Gottes gezeugt wurde.“

Nasreddin nickte zustimmend.

Clara nahm Maryam zärtlich in den Arm, fast mütterlich:

Clara: „Dein Loblied kann auch abseits vom gesellschaftlichen, revolutionären Anspruch als eine Befreiung der Frau von den Ängsten und Zwängen der sozialen Umgebung verstanden werden. Ein eben noch verängstigtes kleines Mädchen, das ungewollt schwanger wird, findet gerade durch ihre Berufung, durch das Gefühl, auserwählt zu sein, die Stärke, die objektiv jämmerliche Situation zu meistern, über sich selbst hinauszuwachsen. Sie wird stark und hinterfragt die männliche Vorherrschaft. Die Herzen voll Hochmut, also das herrschende männliche Geschlecht, werden zerstreut und die Frau tritt in ihrer ganzen neu gewonnenen Stärke machtvoll hervor. Ihr, der Erwählten, hat von nun an und in alle Ewigkeit kein Mann mehr Vorschriften zu machen, sie hat sich von den traditionellen Fesseln befreit. Die Männer werden vom Thron ihrer Selbstgefälligkeit gestoßen. Die Frau ist nicht nur dem Manne gleichberechtigt, nein, sie wird sogar erhöht. Es könnte sogar so formuliert werden, damit ist der erste Schritt zum Zeitalter der Frau getan.“

Marie: „Dann müsste es im Text nur nicht Gott und er, sondern Göttin und sie heißen. An manchen Stellen könnte der griechische Originaltext wirklich so übersetzt werden. Aber ich denke, für eine solche Interpretation war die Zeit damals nicht reif. Ebenso wie heute.“

Maryam: „Ich bin sicher, etwas revolutionär Feministisches wollte ich damals bestimmt nicht zum Ausdruck bringen. Ich war einfach nur glücklich. Der Gott meiner Väter war für mich immer männlich, eher geschlechtsneutral wie ein Vater eben.“

Marie: „Wolltest Du als kleines Mädchen nicht immer Deinen Vater heiraten?“

Maryam lächelte verlegen.

Clara: „Wie fest die Vorurteile noch immer gefügt sind, erkennt man schon daran, dass uns unser lieber Nasreddin heute süßes Gebäck serviert hat, Kaffee und Tee, wie es sich für kleine Frauchen gebührt.“

Nasreddin war verwirrt, weil er heute nicht derjenige war, der die bissigen und schlagfertigen Bemerkungen machte, aber er hatte sich sofort wieder im Griff.

Nasreddin: „Deinen kleinen Vorwurf habe ich verstanden, Clara. Aber er ist für mich ein gutes Argument dafür, dass sich viele Schwierigkeiten im Zusammenleben von Frau und Mann oder das weibliche Gefühl des Zurückgesetztseins in einer angeblich männlich dominierten Welt nur auf Missverständnissen beruhen. Die Köstlichkeiten des Gaumens habe ich nicht als spezifisch weiblich ausgewählt. Kaffee und Tee gehören zu den Traditionen meiner Kultur und kleine Süßigkeiten esse ich selbst sehr gerne, wie fast alle Männer im Orient. Ich hätte auch nichts anderes serviert, wenn heute der Erzengel Gabriel, der dem Propheten, gepriesen sei sein Name, den heiligen Koran offenbart hat, der heilige Hieronymus, Alfred Nobel und Karl Marx zu einer Diskussionsrunde zu mir gekommen wären. Ich hätte auch dann bestimmt nicht Bier und Schnaps, Schinkenbrote und Gurken auf den Tisch gestellt.“

Clara: „Sei nicht bös, Nasradin. Das war nur ein Scherz. Schinkenbrot und einen Klaren dazu hätte ich auch genommen. Aber als gläubiger Muslim darfst Du ja kein berauschendes Getränk zu Dir nehmen und einen Schweineschinken hast Du bestimmt auch nicht im Haus.“

Maire: „Ich hätte auch keinen Schweineschinken gegessen, aber lasst uns doch jetzt zum Thema zurückkommen. Nasreddin hat recht. Viel Ärger, Hass und Unfrieden entstehen einfach dadurch, dass es Missverständnisse gibt, und die menschliche Wahrnehmung uns nicht selten dazu bringt, bei anderen Einstellungen, Ziele und Handlungsweisen zu sehen, die gar nicht vorhanden sind. Wir machen uns ein Bild von anderen Menschen, von anderen Völkern und von anderen sozialen Schichten und halten dieses Bild in unserem Kopf dann für wahr, obwohl die Realität nicht selten eine ganz andere ist. Wir behandeln die Menschen so wie wir glauben, dass sie sind und nicht nach dem, wie sie wirklich sind.“

Clara: „Dann glaubst Du also, die Frauen haben sich über Jahrhunderte nur eingebildet, von den Männern unterdrückt worden zu sein? War es nicht das Ziel der Männer, den Frauen das Wahlrecht vorzuenthalten, um weiter männliche Politik machen zu können? Durften die Frauen, noch im 20. Jahrhundert keinen Beruf ohne die Zustimmung ihres Mannes ergreifen, nur um sie in finanzieller Abhängigkeit von ihren Ehemännern zu halten?“

Marie: „Diese Diskriminierungen waren schon schlimm. Ich kenne das. Ich musste meine Heimat verlassen, weil ich dort als Frau nicht studieren durfte und bin daher nach Paris gegangen. Doch ich glaube nicht, dass es das erklärte Ziel der Männerwelt war, die Frauen in einer gesellschaftlichen Sklaverei zu halten. Es war Tradition. Es war die Folge der festgelegten Geschlechterrolle.“

Clara: „Doch wer hat diese Geschlechterrolle festgelegt? Waren das nicht die Männer? Was war der Sinn dieser Rollenaufteilung?“

Elisabeth: „Lasst mich doch einmal einen ganz anderen Gedanken in die Runde werfen. Ich denke, unser Schöpfer hat zunächst die Geschlechterrolle festgelegt, indem er den Menschen als Mann und Frau geschaffen hat und nicht als Unisex-Wesen wie eine Qualle.“

Clara lächelte.

Clara: „Dann ist Gott also doch ein Mann! Und weiter…?

Elisabeth: „Also es gibt Mann und Frau. Das ist ein Fakt. Die Frauen gebären die Kinder. Auch darüber besteht zwischen uns Übereinstimmung. Die erste Zeit seines Lebens kann das kleine Kind nicht überleben ohne den Menschen, der es geboren hat. Das ist nun mal seine Mutter, also eine Frau. Das ist die rein biologische Festlegung der einfachsten Geschlechterrolle und hat mit Unterdrückung und Diskriminierung nichts zu tun. Wenn die Männer die Frauen zu Hause haben wollen und nicht draußen im Leben, dann entspringt das doch dem urmenschlichen Motiv der guten Versorgung der Kinder, dem Sicherheitsbedürfnis und dem Wunsch nach Geborgenheit in Haus und Familie und nicht der Absicht, die Frauen zu versklaven.“

Clara: „Ich kenne Deine Geschichte. Du warst zwar als Fürstin privilegiert, aber Du hast unter den Männern gelitten. Nachdem Dein Mann, der Landgraf von Thüringen, auf dem Kreuzzug gefallen war, hat Dein Schwager unrechtmäßig die Herrschaft übernommen und auch später, als Du mithilfe Deines Onkels Deine Stellung halbwegs stabilisieren konntest, musstest Du Dich gegen den unsäglichen Magister Konrad wehren, der Dir als geistlicher Beistand zu Seite gegeben wurde, damit Du als Frau keine Dummheiten machst. Dein Schwager und dieser Konrad wollten Dich als Person versklaven und Dir Deine Freiheit als Frau nehmen, das war ihr erklärtes Ziel.“

Elisabeth: „Stimmt. Das wollten sie. Aber es ist ihnen nicht gelungen. Eine starke Frau muss nicht gesellschaftlich emanzipiert werden, sie kann es selber tun. Es ist eine Frage der Persönlichkeit und des Mutes. Ich bin Dir und Marie darin sehr ähnlich. Marie hat als Wissenschaftlerin eine Karriere gemacht, wie sie wohl keinem Mann gelungen ist. Sie wurde als einzige Frau mehrfach mit dem Nobelpreis ausgezeichnet und es gibt nur einen einzigen Mann, der wie sie in zwei verschiedenen Fächer diese Auszeichnung erhalten hat.“

Marie: „Dennoch hat mir die Academie de science die Aufnahme verweigert, nur weil ich eine Frau war, und Le Figaro titelte damals, man solle nicht versuchen, die Frau dem Mann gleich zu machen.“

Elisabeth: „Aber Du hast es geschafft, Deinen Weg zu gehen, weil Du eine starke Frau warst. Ich habe mich über den verräterischen Schwager hinweggesetzt und beim Bau und Betrieb meines großen Hospitals den erbärmlichen Konrad einfach hinter mir gelassen. Ich wusste, was ich konnte, und ich war jeder Situation auch als Frau gewachsen, selbst als ich nach meiner Vertreibung aus der Wartburg in bitterste Armut leben musste. Ich habe mich durchgesetzt. Mein Ziel war es aber nie, mich als Frau zu beweisen, obwohl ich schon als ganz junge Frau in Abwesenheit des Landgrafen Thüringen selbstständig und gut regierte. Mein Ziel war es, für die Armen, Kranken und Verlassenen da zu sein, die meiner Hilfe bedurften.“

Clara: „Ja, und Du hast Dein ganzes Vermögen unter die Armen verteilt. Nur das behalten, was zum Betrieb Deines Hospitales notwendig war. Du hast die Hungernden beschenkt und die Reichen leer ausgehen lassen. Wie in Maryams Magnificat. Du warst eine ganz frühe Kommunistin.“

Diesen Gedanken wollte Nasreddin aufgreifen, um die Runde wieder zum ursprünglichen Thema zurückzuführen.

Nasreddin: „Wenn also Elisabeth als Kommunistin gehandelt hat, dann standen demnach nicht Karl Marx und Friedrich Engels mit ihrem Manifest von 1848 am Beginn der kommunistischen Revolution, sondern Jesus von Nazareth?

Clara: „Wenn Du es so sehen willst, lass ich das gelten. Der Besitz der Einzelnen muss nach den Bedürfnissen der Gesellschaft aufgeteilt werde, es darf in der Gemeinschaft keine Privilegien geben. Alle sind gleich und einer trage das anderen Last. Das ist ein kommunistischer Gedanke und das Urchristentum würde ich schon als eine Gemeinschaft im kommunistisch gesellschaftlichen Kontext sehen. Nur die sogenannte Kirche hat etwas anderes daraus gemacht.“

Maryam: „Einer trage des anderen Last, stammt freilich nicht von Karl Marx, sondern vom heiligen Paulus aus seinem Brief an die Galater.“

Clara: „Ändert wohl nichts an der Tatsache, dass Gott offensichtlich Kommunist ist.“

Nasreddin dachte an die 104. Sure im Koran. Wehe jedem, der Geld und Gut sammelt und immer wieder zählt, im Glauben, dass sein Vermögen ihn unsterblich mache. Keineswegs! Er wird in die Hölle geworfen werden. War vielleicht auch der Prophet, gepriesen sei sein Name ein Kommunist?

Maryam: „Elisabeth hat doch recht. Ob wir jetzt eine bestimmte persönliche Haltung als Kommunismus oder Christentum bezeichnen, ist doch nur ein sprachliches Problem. Was jemand tut oder nicht tut, muss losgelöst vom gesellschaftlichen Umfeld sein. Wenn ein sozialistischer Staat den Einwohnern vorschreibt, sie dürfen kein Eigentum mehr haben und jeder soll auf Kosten der Gemeinschaft versorgt werden, ist das ein Zwang und der menschlichen Natur fremd. Wenn das Christentum zum verantwortungsvollen Umgang mit dem Eigentum aufruft und alle Weltreligionen sich darüber einig sind, dass irdische Reichtümer in einer anderen Welt wertlos sind, dann ist das ein Denkanstoß für die Menschen. Es bleibt der freien Entscheidung eines jeden Einzelnen überlassen, was er daraus macht. Entscheidet er egoistisch oder entscheidet er sich für die Liebe? In dieser Entscheidung ist er frei. Aber in seinem Innern ist der von Gott geleitete Mensch immer gut und weiß, was richtig ist.

Marie: „Im Prinzip richtig. Doch der einzelne Mensch ist so unabhängig in seiner Entscheidung nicht immer. Es gibt viele Beispiele für Situationen, in denen sich die Menschen erst durch den Druck einer sozialen Gemeinschaft richtig entschieden haben.“

Clara: „Also braucht es doch den kollektiven Druck innerhalb einer sozialen Schicht oder Klasse, damit der Mensch für sich richtig entscheidet.“

Marie: „Was ist allerdings eine objektiv richtige Entscheidung? Gibt es eine solche überhaupt. Was subjektiv richtig ist, kann ebenso objektiv falsch sein. Richtig ist hier ein genauso problematischer Begriff wie die Wahrheit oder die Wirklichkeit.“

Elisabeth: „Für mich habe ich diese Frage ganz einfach gelöst. Richtig ist das, was den Menschen in meiner Umgebung nutzt, was den Menschen, denen ich mit meiner Entscheidung helfen kann, hilft, was die Menschen glücklich macht, soweit ich es vermag. Alles, was dazu führt, ist für mich eine richtige Entscheidung. Ohne Druck von außen und ohne Zwang.“

Clara: „Dann ist Gott nach Deiner Meinung doch kein Kommunist?“

Maryam: „Ihr habe alle in gewisser Weise recht. Ich will Euch dazu etwas erzählen: Erinnert ihr Euch noch an die Geschichte, als mein Sohn Jesus vor fünftausend Menschen predigte? Seine Jünger wollten die Menschen in die nahe gelegenen Orte schicken, damit sie sich dort etwas zum Essen kaufen. Aber Jesus sagte ihnen: Gebt Ihr ihnen zu essen. Doch die Jünger konnten nur fünf Gerstenbrote und zwei kleine Fische auftreiben, die ein kleiner Junge bei sich hatte. Jesus segnete Brot und Fische und seine Jünger verteilen sie unter die Anwesenden. Alle wurden satt und zwölf Körbe mit Resten konnten noch eingesammelt werden.“

Clara:Gebt Ihr ihnen zu essen! Ich finde die Aufforderung an die Jünger gut. Damit, meint Jesus, statt auf Gottes Hilfe zu hoffen, müssen die Menschen jeder an seinem Platz dafür sorgen, dass die Not gelindert wird. Das ist Sozialismus.“

Marie: „Aber bei fünf Broten und zwei Fischen ist der Sozialismus bald am Ende. Vom Sozialismus werden keine fünftausend Menschen satt. Dennoch will ich bei dieser Geschichte nicht an ein Ereignis glauben, das im Widerspruch zu allen Erkenntnissen der Wissenschaft steht.“

Elisabeth: „Es gibt da eine Erklärung, die nicht im Widerspruch zur Wissenschaft steht. Für den, der Himmel und Erde aus dem Nichts erschaffen hat, wäre es ein Leichtes, die Lebensmittel so zu vermehren, dass es für alle reicht. Aber was würde das bedeuten? Für Dich Clara, wäre es so etwas wie ein billiger Zaubertrick und Du, Marie würdest sagen, hier hat sich etwas ereignet, das wir zurzeit nicht mit den zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Methoden erklären können, und daher sind wir auf Hypothesen angewiesen. Ich aber glaube, hier hat sich ein wirkliches Wunder ereignet und dieses Wunder spielte sich in den Seelen der einzelnen Menschen ab und in ihrer Entscheidung für die gemeinschaftliche Liebe. Versetzt Euch doch einmal in die Situation der Menschen, die Jesus zuhörten. Alle hatten Hunger und alle hatten Vorräte dabei. Brote, Fleisch, Fische und so weiter. Aber keiner getraute sich, seine Vorräte auszupacken. Sie hatten Angst, sie müssten das Mitgebrachte mit den Sitznachbarn teilen, die so unvorsichtig waren, keine Lebensmittel einzupacken. Dann würde das Essen für niemanden reichen und sie selbst müssten auch hungrig bleiben. Also taten sie erst einmal nichts. Doch dann sehen sie, wie der Heiland die Fische und die Brote segnet, wie die Jünger anfangen zu verteilen, und sie erkennen, da gibt es wohl genug Lebensmittel, die der Wunderrabbi unter die Zuhörer verteilt. Schnell greifen sie zu ihrem Bündel, packen aus und teilen auch mit den Menschen neben ihnen. Es ist ja genug für alle da. Die Menschen beginnen zu teilen. Das ist das wahre Wunder: Die Menschen dazu zu bringen, mit anderen zu teilen.“

Nasreddin: „Das hat wohl Maryam gemeint, als sie sagte, Gott erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten, und der vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten.“

Maryam: „Lieber Nasreddin, liebe Clara, liebe Marie und liebe Elisabeth. Ich habe es sehr genossen, von Euch zu hören, was ich mir dabei gedacht habe, als ich die Worte sprach, die man heute das Magnifikat nennt, wie ihr die Sätze aus der Sicht der Wissenschaft und der Politik analysiert habt, wie viel Sozialkritisches und Emanzipatorisches ihr darin gefunden habt. Wenn ihr aber die Frau fragt, die diese Worte gesprochen hat, so kann ich Euch versichern, ich war in diesem Augenblick nur glücklich, überglücklich. So glücklich wie ein Mensch auf dieser Welt nur sein kann. Ich spürte eine große Liebe zu Gott und zu allen Menschen, deren Erlöser mir anvertraut war. Die Liebe Gottes und vielleicht ist Gott die Liebe selbst strömte über mein ungeborenes Kind in mich und wartete darauf, über alle Menschen ausgegossen zu werden.

Vielleicht sollten wir uns bei unserer nächsten Kaffeetafel einmal über diese Liebe unterhalten.“

Nasreddin gefielen diese Worte sehr und die anderen Frauen am Tisch stimmten Maryam eifrig zu.

 

Zu den Personen:

Maryam, die Jungfrau Maria, hier in der aramäischen Form, der Muttersprache Marias. Der Islam verehrt Maria und benutzt in der 3. Sure eine Formulierung, die dem Magnifikat nicht unähnlich ist: „O Maria, siehe Gott hat Dich auserwählt und gereinigt und erwählt vor allen Frauen der Welten.“ Die historische Maria lebte in Nazareth zur Zeit der römischen Kaiser Augustus und Tiberius. Für ihren Ehemann Josef wurde hier auch die aramäische Form Yussuf gewählt.

Elisabeth von Thüringen, (1207-1231), älteste Tochter des Königs Andreas II. von Ungarn, Landgräfin von Thüringen. Sie führte eine sehr glückliche Ehe und galt schon früh als eine Helferin der Armen und Kranken. Nach dem Tod ihres Mannes Ludwig wurde sie von dessen Bruder von der Wartburg vertrieben und lebte mit ihren Kindern in bitterster Armut, die jedoch ihrem Lebensideal entsprach. Nach Restitution ihrer persönlichen Güter widmete sie sich wieder der Armenfürsorge und gründete in Marburg ein großes Hospital, in dem sie arbeitete. Von ihrem geistlichen Beistand Konrad von Marburg konnte sie sich zunehmend emanzipieren. Sie starb mit 24 Jahren und wurde bereits 1235 heiliggesprochen. Ihr Sohn Hermann wurde wie der Vater Landgraf von Thüringen, die Tochter Sophie heiratete Heinrich II, Herzog von Brabant, deren Sohn Heinrich wurde der erste Landgraf von Hessen. Ihre Tochter Gertrud wurde Äbtissin des Klosters Altenberg und 1348 seliggesprochen.

Nasreddin, auch Hodscha Nasreddin oder Nasradin genannt, lebte vermutlich im 14. Jahrhundert in Anatolien. Über ihn kursieren im gesamten orientalischen Raum sogar bis Indien und China zahlreiche witzige, humorvolle und schwankhafte Erzählungen.

Clara Zetkin, (1857-1933) als Clara Josephine Eißner in Sachsen geboren, war eine sozialistische-kommunistische Politikerin, die sich insbesondere der Friedensbewegung und den Frauenrechten widmete. Die ausgebildete Lehrerin war von 1920 bis 1933 Reichstagsabgeordnete in Deutschland. Sie gilt als eine der Initiatorinnen des Internationalen Frauentages und Mitgründerin der Sozialistischen Internationalen. Mit ihrem Lebenspartner, Ossip Zetkin dessen Namen sie im Pariser Exil annahm, hatte sie zwei Söhne. Der Sohn Maxim war als Mediziner Professor an der Universität in Berlin und Direktor der Charité. Sein Bruder Kostja, der als junger Mann mit Rosa Luxemburg liiert war, studierte Ökonomie und Medizin und emigrierte nach 1945 nach Kanada, wo er bei verschiedenen psychiatrischen Instituten arbeitete.

Marie Curie, (1867-1934) geboren als Maria Salomea Sklodowska in Warschau, Physikerin und Chemikerin. Sie studierte und wirkte in Paris, da ihr in der Heimat der Zugang zur Universität verwehrt war. Zusammen mit ihrem Mann entdeckte sie die chemischen Elemente Polonium und Radium. Sie erhielt den Nobelpreis für Physik (1903) sowie den Nobelpreis für Chemie (1911). Ihre Tochter Irene wurde 1935 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet.